Wohnraum und auch noch bezahlbar? Für viele in Leipzig nur ein Traum - gerade für Menschen mit Behinderung. In Reudnitz wird dieser für Caroline Semmler und andere eingeschränkte Männer und Frauen wahr.
Leipzig. In der Cichoriusstraße steht ein viergeschossiger Rohbau. Beton und Holz tauchen das Haus in ein tristes Grau-Braun. Zwischendurch klaffen große Fensterlücken, in denen zerschlissene Folien wehen. Von Gemütlichkeit ist jetzt noch nichts zu sehen. Doch die Vision des Hauses ist groß. An der Außenfassade sollen Kletterpflanzen und Blumenkästen angebracht werden, oben entsteht ein Dachgarten, hinten ein Hof zum Zusammenkommen. Innen gibt es einen Gemeinschftsraum, eine WG, Einzelwohnungen und Platz für eine Familie. Alles barrierefrei und alles bezahlbar. Ein nachhaltig gebautes Haus mit ausschließlich Sozialwohnungen.
Auch Caroline Semmler will in der Cichoriusstraße einziehen. Sie ist mittlerweile 29 Jahre, wohnt ländlich bei ihren Eltern in der Nähe von Groitzsch. Arbeiten geht sie aber in einer Werkstatt in Leipzig. Sie ist körperlich und kognitiv stark eingeschränkt und stets auf einen Rollstuhl und persönliche Unterstützung angewiesen. Ein Bus fährt bei ihr in der Woche nur einmal in der Stunde. Will sie nach der Arbeit noch Zeit mit anderen verbringen, benötigt sie ein Auto und ihre Eltern.
Caroline Semmler wünscht sich ein eigenes Zuhause
Ihre Mutter, Cornelia Semmler, begleitet sie die meiste Zeit des Tages. „Wer will schon mit 30 noch bei den Eltern wohnen? Wenn man jetzt gesund wäre, wäre man schon längst ausgezogen“, erzählt Semmler. „Das ist echt scheiße“, kommentiert ihre Tochter. Seit längerem wünscht sie sich eine eigene Wohnung und unabhängig zu sein von ihrem jetzigen Zuhause.
So wie viele andere ihrer Freunde, doch die Nachfrage ist groß und der Wohnraum knapp. „Teilweise suchen Eltern länger als zehn Jahre für ihr Kind nach einer Wohnung. Wohnheime haben lange Wartelisten und man möchte etwas finden, wo man sich wohlfühlt und gut aufgehoben ist“, erzählt Cornelia Semmler. Mit ihrem Eintritt in die Genossenschaft inklusiv LEben eG gemeinsam mit ihrem Mann macht sie den Wunsch ihrer Tochter greifbar.
Teilweise suchen Eltern länger als zehn Jahre nach einer Wohnung für ihr Kind.
Cornelia SemmlerMutter von Caroline und Genossenschaftmitglied
Ein utopisches Projekt führt Architekt und Eltern zusammen
Die Genossenschaft besteht aus einem altruistischen Architekten und ambitionierten Eltern, die beide das gleiche Ziel verfolgen: inklusiven, nachhaltigen und bezahlbaren Wohnraum zu verwirklichen. Was für viele wie ein utopisches Ziel klingt, ist für den Architekten Dirk Stenzel eine Kampfansage an seine Berufsgruppe. Mit seinem Konzept für ein barrierefreies Haus bewirbt er sich 2019 bei einer Projektvergabe der Stadt Leipzig und gewinnt.
Für 65 Jahre darf er das Grundstück auf der Cichoriusstraße in Reudnitz pachten und bebauen. Ungewöhnlich für ein Bauprojekt sucht er sich erst im Nachhinein Mitgestalter, mit denen er das Projekt durchführen und finanzieren kann. Er trifft auf eine Gruppe von Eltern, die alle erwachsene Kinder mit Behinderung haben. Gemeinsam gründen sie zwei Jahre später inklusiv LEben eG. Die erste und einzige gemeinnützige Wohnungsgenossenschaft überhaupt in Sachsen.
2,2 Millionen Euro kostet das Wohnprojekt
Der Wunsch von Caroline Semmler soll noch in diesem Jahr im Mai Wirklichkeit werden: Zusammen mit sechs anderen Menschen mit Behinderung zieht sie in das Haus. Einige von ihnen kenne sie schon von ihrer Arbeitsstelle. Deshalb freue sie sich am meisten auf das Zusammensein. Nicht nur mit bekannten Gesichtern. Denn in das Haus zieht neben den sieben unter anderem auch eine Familie und eine Seniorin ein. Eine Einzelwohnung ist bisher noch unbesetzt.
Pro Quadratmeter zahlen die Bewohner 6,50 Euro. 2,2 Millionen Euro müssen insgesamt für das Projekt aufgebracht werden. Davon wird ein Großteil durch Fördermittel von Stadt und Freistaat finanziert. Da dieses aber erst nach bestimmten Bauphasen gezahlt werden kann und die Genossenschaft gemeinnützig ist, ist sie immer wieder auf Darlehen oder Spenden angewiesen.
Inklusion kann nach außen getragen werden
Dafür setzt sich besonders Veronika Wenck ein. Sie ist im Vorstand der Genossenschaft tätig und arbeitet wie alle anderen Eltern ehrenamtlich für das Wohnprojekt. Auf der Suche nach Wohnraum für ihre Mutter ist sie auf die Webseite des Projekts gestoßen und seitdem aktiv dabei. Für sie ist es wichtig, dass die Idee der Inklusion auch außerhalb des Hauses stattfindet. „Indem wir das Miteinander vorleben und das Haus für die Nachbarn und Allgemeinheit öffnen, tragen wir die Inklusion nach draußen.“
Auch wenn sie selbst nicht in die Cichoriusstraße einziehen wird, ist Wenck von der Idee des Wohnprojekts überzeugt. „Ganz viele Menschen tun sich zusammen und zeigen, dass es geht. So ein Haus würde niemand bauen, der damit Geld machen will. Und doch ist es wichtig, dass es den Wohnraum gibt, weil der Bedarf hoch ist.“
Es sind noch nicht alle Finanzlücken gedeckt. Trotzdem bereitet sich die Genossenschaft schon auf das Miteinander im Haus vor. Im Januar wird ein Workshop unter dem Thema: „Wie gestalten wir das Zusammenleben?“ mit einem Coach stattfinden. Schon bald wird Caroline Semmler nicht mehr an ihre Eltern gebunden sein, sondern endlich unabhängig.
LVZ vom 07.01.2025 von Roxana Irrgang